Weihnachten 1944

Sonntag, 24. Dezember 1944

 

 (ein Auszug aus dem historischen Roman "Heidelbeerkind")

 

 

Für das Weihnachtsessen richteten sie Hühnersuppe und Bratkartoffeln. Sogar einen kleinen Rotkohl hatte die Mutter besorgt. Schweigend arbeiteten Elise und ihre Mutter nebeneinander. Elise rührte die Brühe um, die Mutter schälte die Pellkartoffeln.

Mehrmals setzte Elise an, etwas zu sagen, doch es kam kein Ton über ihre Lippen.

 Als die Mutter die Küche verließ, brummte sie: »Das wird wohl das letzte Weihnachtsfest sein, an dem wir etwas zu essen haben.«

 Elise spürte einen Stich im Herzen. »Du irrst dich. Ich habe schon wieder Arbeit.« Mit einem Satz stand die Mutter wieder im Türrahmen. »Was sagst du da?«

»Ich habe wieder Arbeit.«

»Wo denn?«

»Bei Ferdinand.«

»Aha.« Mutter zwinkerte ihr zu.

»Ich mache meine Arbeit und bekomme dafür meinen Lohn.« Die Worte schossen geradezu aus ihr heraus.

»Dann wird doch noch alles gut.« Selten hatte ihre Mutter in den vergangenen Tagen so zufrieden geklungen.

 

Die Bescherung war für alle mehr als mager ausgefallen. Wovon hätten sie auch noch Geschenke kaufen sollen? Nun war Zeit für den Kirchgang.

Elise schlüpfte in ihr blaues Kleid, das die Mutter ihr für den Weihnachtsabend im vergangenen Jahr genäht hatte. Es sollte ein Wiedersehensfest werden, doch dann hatten sie Mitte Dezember erfahren, dass der Vater in Russland erfroren war. Seither hing das Kleid im Schrank. Doch dieses Jahr wollte sie es tragen, denn so fühlte sie sich dem Vater nahe – und … »Ach, Julius«, seufzte sie und strich sich mit der Hand über die Wangen, wie er es so oft getan hatte. »Wenn ich nur wüsste, wo du bist.«

Es gelang ihr nicht, das Kleid zuzuknöpfen, zu sehr spannte es über der Wölbung. Sie zog den Bauch ein, hielt die Luft an und schob die Knöpfe durch die zugehörigen Löcher. Dann atmete sie langsam aus und wartete ab, ob der Stoff hielt.

Die Kirchenglocken begannen zu läuten.

»Elise, was ist? Kommst du?« Die Ungeduld war ihrer Mutter anzuhören.

»Ich bin auf dem Weg.« Hastig zog sie die Winterstiefel an, drehte sich noch einmal vor dem Spiegel, zerrte ihren Mantel vom Haken und eilte die Treppe hinunter.

Hans stand vor ihr und strahlte sie an. »Du siehst wie das Christkind aus.«

Elise hielt einen Augenblick inne, streichelte ihm über den Kopf und nahm ihn bei der Hand. »Danke, Brüderchen.«

Schweigend stapften sie durch den Schnee, Hans in der Mitte. Im Mondschein glitzerte die weiße Decke. In der Hauptstraße kamen die Leute aus ihren Häusern. Wenige nickten ihnen stumm zu, die anderen grüßten gar nicht.

Elise wagte einen Seitenblick zu ihrer Mutter. Die fixierte starr den Boden und schien gar nichts wahrzunehmen. Je näher sie der Kirche kamen, umso mehr Getuschel fiel Elise auf. Sie sog die kalte Winterluft ein und war dankbar, dass sie sich an der Hand des kleinen Bruders festhalten konnte.

 

Am Aufgang zur Kirche erkannte sie im fahlen Schein der Kerzen den Pfarrer, der alle Ankömmlinge per Handschlag begrüßte. Kaum zwei Schritte von ihm entfernt stand Gerda. Elise winkte ihrer Freundin, doch die reagierte nicht. Erkennt sie mich nicht?, schoss es Elise durch den Kopf. Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, war sie in der Schlange, die den Pfarrer begrüßte, vorgerückt und Gerda wurde durch die vor ihr stehenden verdeckt. Eine Stufe nach der anderen tastete sie sich voran. Unangenehm spürte sie die Enge des Kleides, das ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Jetzt konnte sie den Pfarrer hören. »Gott segne dich«, grüßte er jeden Einzelnen seiner Schützlinge.

Hans ließ ihre Hand los, denn die Mutter schob ihn vor sich. Der Pfarrer beugte sich zu dem Kind hinunter, dann war Mutter an der Reihe. Er gab ihr die Hand, sagte aber nichts, sondern sah sie streng an. Dahinter stieg Elise die Stufe hoch zum Kircheneingang und hielt dem Pfarrer die Hand zur Begrüßung hin. Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu reichen, sondern funkelte sie böse an. Elise schluckte. Sein Blick wanderte an ihr auf und ab. Das Gemurmel um sie herum verstummte. Hitze stieg ihr in den Kopf. Das Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie neigte den Kopf, denn der durchdringende Blick des Pfarrers fügte ihr einen fast körperlichen Schmerz zu. In der Nähe erkannte sie Ferdinands Stimme, der scheinbar in ein Gespräch vertieft war und offensichtlich nichts von dem mitbekam, was hier vor sich ging.

»Du kommst nicht hier herein.« Die Stimme des Pfarrers peitschte durch die kalte Winterluft und ließ Elises Herz gefrieren.

Sie öffnete den Mund, japste nach Luft und wollte etwas erwidern, doch es kam kein Ton heraus. Zitternd sah sie sich um. Jetzt entdeckte sie Gerda. Sah es nur so aus oder grinste sie? Elise wandte sich nach ihrer Mutter um, die mit tiefer Sorgenfalte in der Stirn wartend da stand und Hans an sich presste.

»Herr Pfarrer.« Mutters Stimme klang beschwichtigend.

»Zweierin, da gibt es nichts zu sagen. Deine Tochter hat sich versündigt. Da gibt es auch nichts zu deuten. Eine Sünderin kann den Segen des Herrn nicht empfangen.«

»Ja, aber ...« Mehr brachte Elise nicht heraus.

Da preschte Ferdinand heran, legte den Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Stirn. »Da bist du ja, meine Beste.«

Elise sah ihn verdutzt an und wollte sich sofort aus seiner Umarmung befreien, doch er ließ nicht locker. Stattdessen redete er unbeirrt weiter. Er fixierte den Geistlichen. »Eigentlich wollte ich bis nach den Feiertagen warten, aber wenn wir hier schon die Gelegenheit haben, dann frage ich Sie gleich. Herr Pfarrer, würden sie uns trauen und, wenn es so weit ist, unser Kind taufen?«

Elise kniff ihm ins Bein. Was tat Ferdi? Die Gesichter ringsum waren erstarrt. Der Pfarrer hustete, zog ein Tuch aus seinem Ärmel, wischte sich damit über die Stirn und rang offensichtlich um Fassung. »Ja, wenn das so ist.«

»So ist es!« Ferdinand bekräftige seine Aussage mit einem Fingerzeig. »Und jetzt sollten wir die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus feiern.« Er bugsierte Elise die letzte Stufe hinauf, bedeutete ihrer Mutter, ihm zu folgen und betrat mit Elise im Arm die Kirche.

 

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